Du gibst in Flüchtlingslagern Selbstverteidigungskurse für Frauen. Wie muss man sich das vorstellen?
Die Zeit in Kurdistan ist jedes Mal sehr intensiv: Ich gebe jeweils am Morgen und am Nachmittag Selbstverteidigungskurse für rund 25 Personen. Das Programm lehnt sich an Impact an, eine Kombination aus Selbstverteidigungsstrategien, das neben Selbstverteidigungstechniken auch weitere Aspekte umfasst: Wie kommuniziere ich richtig? Wie setze ich meine Stimme effektiv ein? Wie deeskaliere ich angespannte Situationen? Bei der Selbstverteidigung geht es nicht nur ums Kämpfen, sondern auch um die Körperhaltung, ums Auftreten! Und ich zeige, wie man Alltagsgegenstände wie einen Regenschirm oder Rucksack zur Verteidigung nutzen kann. Die meisten meiner Schülerinnen sind junge Frauen. Häufig besuchen sie mehrere Kurse hintereinander, es kommen aber auch laufend neue Frauen dazu.
Wie ist die Infrastruktur in den Lagern?
Die Bedingungen sind hundsmiserabel, anders kann man es nicht sagen. Da heisst es improvisieren. Da wird ein IT-Room mit ein paar Yogamatten schnell zum Trainingsraum umfunktioniert. Auch fällt zum Beispiel der Strom sehr oft für mehrere Stunden aus. In all den Jahren habe ich eine gewisse Fähigkeit entwickelt, kreative Lösungen für aussergewöhnliche Probleme zu finden.
«Es geht nicht nur um Selbstverteidigung. Wir erklären den Frauen, dass sie Nein sagen und physische und psychische Unversehrtheit einfordern dürfen. Die Gewissheit, Grenzen setzen und über sich bestimmen zu können, ist wichtig und wirkt befreiend.»– Caterina Valente
Wie verändern deine Kurse die Situation für die jungen Frauen?
Menschen, die Kampfsport betreiben, haben mehr Selbstvertrauen. Sie strahlen Stärke aus und werden weniger angegriffen. Es geht nicht nur darum, sich gegen Übergriffe physisch wehren zu können. Wir erklären den Frauen auch, dass sie Rechte haben, dass sie Nein sagen dürfen und können. Frauen dürfen physische und psychische Unversehrtheit einfordern. Wenn sie das Gefühl der Selbstbestimmung haben, kommen sie aus ihrer Passivität und wollen etwas bewegen, etwas verändern. Sei es in der Politik, der Gesellschaft oder der Wirtschaft. Davon profitiert auch das Land. Ich glaube, dieses Gefühl, Grenzen setzen und selbst über sich bestimmen zu können, ist extrem wichtig und befreiend.
Mein Projekt «Traces of Hope» wurde in kurzer Zeit sehr erfolgreich, und nachdem mein Projekt als Modul ein fester Bestandteil in sehr vielen Flüchtlingslagern in Kurdistan im Irak wurde, ging ich zum nächsten Schritt über: die Nachhaltigkeit. Etwas zu tun, ist das eine, etwas nachhaltig zu tun, das andere. Und so etablierte ich das zweite Projekt, das «Train the Trainer» Programm. Ich bilde zusätzlich die Mädchen, die am meisten Freude und Talent mitbringen, zu Trainerinnen aus, damit sie in Zukunft auch selbst Mädchen und junge Frauen unterrichten können. Damit können sie das Gelernte in ihre Kultur einbetten, wie es für sie stimmt. Und es ist auch für die Frauen grossartig zu sehen, dass jemand aus ihrer Kultur diese Werte und Techniken vermittelt.
Wie kommen deine «Train the Trainer» Programm an?
Sehr gut. Und das nicht nur bei den Teilnehmerinnen, auch von Männern erhalte ich viel Zustimmung. Bei meinem letzten Besuch wurde ich sogar von einem kurdischen Fernsehsender eingeladen, um ein Interview zu geben.
Wie erlebst du die Frauen in diesen Flüchtlingslagern?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Frauen in diesen Regionen sehr kontrolliert sind, Emotionen werden nicht gezeigt. In meinem Unterricht haben sie die Chance, ihre Emotionen zu zeigen. Freude, aber auch Frustration und Wut. Ein wichtiger Teil in der Selbstverteidigung ist der Einsatz der Stimme. Bei den Übungen fordere ich sie auf, bei jedem Schlag oder Kick gleichzeitig zu schreien. Das ist etwas, dass die meisten dieser Frauen noch nie zuvor gemacht haben. Es ist erwiesen, dass der Einsatz der Stimme bis zu 30 Prozent mehr Kraft verleiht und gleichzeitig erhöht es die Chance, dass andere Mitmenschen auf die Situation aufmerksam werden und helfen. Meistens sind die Frauen anfangs sehr scheu, aber man wächst schnell als Gruppe zusammen und am Ende ist man fast wie eine Familie.
«In meinem Unterricht können Frauen einfach mal ihre Emotionen zeigen: Freude, aber auch Wut und Frustration.»– Caterina Valente
Was ist deine Motivation?
Seit ich denken kann ist soziales Engagement für mich von grosser Bedeutung und eine absolute Herzensangelegenheit. Ich fühlte mich schon immer sehr privilegiert: Ich bin in einem sicheren Land aufgewachsen, durfte ausgezeichnete Bildung geniessen, habe einen guten Job und verdiene gutes Geld. Davon will ich etwas zurückgeben. Hier in der Schweiz ist das die freiwillige Feuerwehr. Das reicht mir allerdings bei weitem nicht. Unsere Zeit auf dieser Welt ist begrenzt, und am Ende möchte ich behaupten dürfen, alles dafür getan zu haben, um möglichst vielen Menschen etwas Gutes und ein bisschen mehr Hoffnung geschenkt zu haben.
Meine Leidenschaft ist der Kampfsport, und darum war es für mich klar, dass ich mit dieser Leidenschaft Gutes bewirken will. Ich habe auch ein gewisses Talent, Wissen zu vermitteln, Brücken zu bauen und mit Menschen mit einem anderen Hintergrund eine Verbindung aufzubauen.
Wie hat es angefangen?
Vor gut sechs Jahren beschloss ich, meine Leidenschaft, mein Talent, mein Geld und meinen Urlaub dafür einzusetzen, um Mädchen und junge Frauen in Flüchtlingslagern in Krisen- und Kriegsgebieten in Selbstverteidigung zu unterrichten. Und so entstand mein Projekt «Traces of Hope». Fokussiert auf Kurdistan im Irak arbeite ich mit zwei etablierten NGOs zusammen und leiste jedes Jahr, sofern es die Lage erlaubt, zwei Einsätze im Irak. Das sind total vier Wochen, in denen ich zwei Gruppen von Mädchen und jungen Frauen für mindestens sechs Stunden pro Tag in Selbstverteidigung unterrichte. Das Ziel ist das Empowerment dieser Frauen, damit es in diesem Land irgendwann einmal starke und mutige Frauen in Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen geben wird.
«Die Arbeit ist nicht ungefährlich. Es kam schon vor, dass ich Einsätze wegen der Sicherheit kurzfristig absagen musste, und einmal verbrachten wir die ganze Nacht im Untergrund und hörten, wie Bomben explodierten.»– Caterina Valente
Dein letzter Einsatz war im Februar. Angesichts des wieder aufgeflammten Nahostkonflikts nicht gerade ungefährlich. Wie schätzt du die aktuelle Situation ein?
Es ist sicherlich nicht ungefährlich. Einmal mussten wir eine ganze Nacht im Untergrund verbringen und hörten, wie Bomben explodierten. Aber: Durch die Zusammenarbeit mit den NGOs und einem ausgezeichneten Netzwerk im Irak ist es möglich, das Risiko sehr gut einzuschätzen und die Sicherheit so gut wie möglich zu gewährleisten. Es kann auch vorkommen, dass Einsätze sehr kurzfristig abgesagt werden, weil die Lage sich abrupt verändert. Wie zum Beispiel im letzten November, als mein Einsatz zwei Tage vor meiner Abreise abgesagt wurde, weil der amerikanische Militärstützpunkt, der sich gleich neben dem Flughafen in Erbil befindet, bombardiert wurde und die Einreise für mich zu gefährlich war.
Deine schönste Geschichte?
Eine Schülerin von mir hat es tatsächlich geschafft, da rauszukommen und studiert nun Informatik an einer Universität in Holland. Solche Erfolgsgeschichten bestätigen mich in dem, was ich tue.